2003 ist das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung („EJMB“). In manchen Städten hat man das noch gar nicht gemerkt. In Wiesbaden fand am 28. Juni auf dem Kranzplatz ein großes buntes Fest statt, das der „Arbeitskreis der Wiesbadener Behindertenorganisationen und Selbsthilfegruppen“ organisiert hatte. Der „Markt der Möglichkeiten“ war der erste gemeinsame Auftritt der Selbsthilfeorganisationen und fand gehörige Aufmerksamkeit: Zu den Gästen und Helfern an den Ständen gehörten der Wiesbadener Oberbürgermeister, der Sozialdezernent sowie Bundes- und Landtagsabgeordnete. Auch an das Medienecho hatten die Veranstalter gedacht: Das nichtkommerzielle Lokalradio „Rheinwelle“ übertrug 8 Stunden lang live; verantwortlich: die Redaktionsgruppe „Radio GanzNormal“.
Eigentlich ganz normal: Behinderte Menschen nutzen Bürgermedien. Das ist ganz und gar im Sinne der Erfinder: Medial unterrepräsentierte Gruppen nehmen ihre Medienpräsenz selbst in die Hand. In Wiesbaden gab ein Zufall den Anstoß. Bodo Schütz war Studiogast bei Radio Rheinwelle, als die Idee für eine Sendung behinderter Menschen aufkam. Aus seinem Bekanntenkreis rekrutierte sich die Kerngruppe von 4 festen Redaktionsmitgliedern, die sich – je nach Thema – um bis zu acht behinderte und nichtbehinderte Personen ergänzt. Die vierzehntägige Sendung hat ein Schwerpunktthema und feste Rubriken: Eine Termin- und Kontaktbörse, Vereinsvorstellungen, Studiogespräche – dazwischen gibt es Musik. Auch das „starke Ding der Woche“ nimmt nur 3 bis 6 Minuten in Anspruch; der kurze Wortbeitrag ist dennoch bei den Verantwortlichen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung bekannt und manchmal gefürchtet.
Nach 10 Jahren politischer Diskussion wurde mit Hilfe von „Radio GanzNormal“ erreicht, dass der Neubau einer zweiten „Schule für praktisch Bildbare“ in Wiesbaden beschlossen wurde. Zwei Monate hat es gedauert, bis die Krankenkassen wieder in die Finanzierung von Therapeuten für geistig behinderte Schüler einstiegen – ein „starkes Ding“. Und wo Politiker gescheitert waren, hatten die beharrlichen Radiomacher Erfolg: In einer Wiesbadener Einkaufspassage wurde der Aufzug so umgebaut, dass Rollstuhlfahrer nicht mehr Gefahr laufen, darin stecken zu bleiben.
Last, but not least: Auch das Studio von Radio Rheinwelle ist seit etwa einem Jahr barrierefrei und groß genug, um mehrere Rollstuhlfahrer aufzunehmen. Die Pulte sind so gebaut, dass man auch vom Rollstuhl aus daran arbeiten kann. Gerade daran scheitern oft ähnliche Initiativen bei anderen Bürgerradiosendern.
„Radio GanzNormal“ hat beste Beziehungen zur Lokalpresse und zum Hessischen Rundfunk. Wenn die Redaktion der Bundestagsabgeordneten Kristina Köhler am 14. Mai 2003 „1 Tag Behinderung“ schenkt, dann wird diese von einem HR-Kamerateam begleitet. Radio GanzNormal ist selbst Mitglied des Arbeitskreises der Behindertenorganisationen und anderer Gremien behinderter Menschen. Die enge Vernetzung hilft, wenn es darum geht, ernst genommen zu werden. Und das Wiesbadener Radioprojekt beweist einmal wieder, dass nichtkommerzielle Medien mehr als eine Spielwiese und manchmal gar ein ernstzunehmender lokalpolitischer Faktor sein können.
Author: Hans-Uwe Daumann
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