„Erlaubte, zwielichtige und verbotene Gesten“

Was am Sonntag, dem 5. Mai 2002, im Hamburger Hauptbahnhof stattfand, ist inzwischen eine Legende der Radiobewegung, und wurde knapp ein Jahr danach mit dem „Alternativen Medienpreis“ des Nürnberger Senders „Radio Z“ prämiert: Ca. 300 Menschen versammelten sich in den Hallen, auf den Bahnsteigen und im Einkaufszentrum des Bahnhofs, hielten kleine Radiogeräte und führten synchron und wie ferngesteuert die gleichen Bewegungen aus. Das „Radioballett“ war eine Erfindung der Hamburger Radiogruppe Ligna, die im Rahmen des „Freien Sender Kombinats“ FSK Sendungen über UKW abstrahlt. Die neuartige, fast einstündige Bahnhofs-Performance war ein origineller Protest gegen die Aktion „Sicherheit, Sauberkeit und Service“ der Deutschen Bahn, die zur Vertreibung unliebsamer Bahnhofsbenutzer geführt hatte. „Am intensivsten beforscht wurde bei dieser Übung in öffentlicher Irritation die Grauzone zwischen „erlaubten“ und „unerlaubten“ Gesten – wie z. B. zwischen der Geste, die Hand zu reichen und der Geste, die Hand aufzuhalten. Der kleine Unterschied in der Haltung der Hand ist in kontrollierten Räumen wie dem Hauptbahnhof von großer Bedeutung, entscheidet er doch darüber, ob man in ihnen verweilen darf oder ausgeschlossen wird“, heißt es auf den Internetseiten des FSK.


Vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht war die Bahn mit dem Versuch gescheitert, das „Radioballett“ zu verhindern. Die Richter verwiesen auf die im Grundgesetz verankerte  Meinungs- und Kunstfreiheit und ließen das Argument, der Bahnverkehr werde gefährdet, nicht gelten. Ole Frahm, Michael Hüners, Torsten Michaelsen und ihre Mitaktiven von Ligna dirigierten nicht nur aus dem Studio in der Kunsthalle das „Radioballett“, sondern waren mit zwei Livereportageteams vor Ort präsent, interviewten Reinigungskräfte und von Hausverboten Betroffene. „Am Ende des Balletts, das vollkommen still vor sich gegangen war, brachen die TeilnehmerInnen und Zuschauer unerwartet in einen mehrminütigen Applaus aus, der die überraschend zurückhaltenden Ordnungskräfte für einen kurzen Moment in Alarmbereitschaft versetzte.“


Ungewöhnliche künstlerische Interventionen sind das Metier von Ligna. Ihre „Radioballett“-Erfahrungen setzten sie in der Vorweihnachtszeit 2002 ein, als sie – im Zusammenhang mit den Protesten nach der Schließung einer Hamburger Wagenburg – am 14. Dezember 2002 eine dreistündige „Radiodemo“ organisierten. Die TeilnehmerInnen „flanierten zerstreut“ in der Einkaufsmeile Mönckebergstraße und hatten ein mitgeführtes Radio auf die FSK-Frequenz eingestellt. Die Strategie der „Zerstreuung“ irritierte viele Passanten, amüsierte viele, die etwas länger stehen blieben, und führte nur bei den anwesenden Polizisten zu Verunsicherung: „Im Laufe der drei Stunden werden zunehmend Fragen gestellt. Erklärungsversuche, Gespräche und Diskussionen zwischen Personen folgen. Man erspäht eine Vielzahl kleiner Antennen, die aus Jacken, Taschen und fast überall sonst herausragen. Die Radios werden zu einem wiedererkennbaren Zeichen. Auch in den Kaufhäusern, so hört man, wurden ganze Radioabteilungen auf Empfang gestellt.“ „Die Polizisten im Einsatz verweisen … etwas hilflos auf die Lautstärke der Radios und erteilen einige schlecht begründete Platzverweise.“
 
Seit Ende 1995 sendet die Ligna-Gruppe. Zu ihren ersten Erfindungen gehörte ein ungewöhnliches Wunschkonzert: Bei Lignas Musik Box spielen die Anrufer von zu Hause per Telefon ihre Wunschtitel vor. Die zweiwöchentliche Sendung lief bereits über hundert Male und existiert bis heute. Beim zweiten Bundeskongress der Bürgermedien im Oktober 2003 in Magdeburg repräsentierte Ligna die „Bürgermedien als Experimentierfeld“. Was Ligna macht, ist von der Idee her überraschend zwingend, den Zielen der Gruppe entsprechend sinnreich, dabei sehr originell und als politische Intervention im Sinne des Wortes entwaffnend. Wenn Radiokunst meint, dass mit dem Medium gespielt werden sollte, dann ist es Kunst. Ein gutes Beispiel dafür, dass „alternative Medien“ keine staubtrockene Angelegenheit sind, ist es ohnehin.

Author: Hans-Uwe Daumann
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