Ludwigshafen: „Egal wo ihr herkommt, ihr seid korrekt“

Mit „… wie wir nach Süd kamen!“ ist ein kurzweiliges 20 Minuten-Videomagazin entstanden, das zwischen Interview und Statement wechselt, Eindrücke urbanen Lebens an Straßenbahnhaltestellen festhält, aus der Hochhausperspektive einen Überblick über die Stadt bietet, Konflikte in einer kleinen Spielfilmszene darstellt und neben Sachinformationsblöcken tanzende Mädchen und rappende Jugendliche präsentiert. Von September 2003 bis Februar 2004 haben 12 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren aus der Wittelsbach-Hauptschule Ludwigshafen eine Videocollage gestaltet, die mit dem Blick auf die Stadt Ludwigshafen beginnt und mit den Familiengeschichten von Zala und Yasmin zwei Migrationsgeschichten von vielen Tausenden wiedergibt, die in der Industriestadt am Rhein erzählt werden können. Das Videoteam befragte Zugewanderte und (scheinbar) Autochtone nach Erinnerungen an den Zuzug und nach dem Verhältnis, das man jetzt zu den „Ausländern“ hat. Es fragt nach der Spannung zwischen Hierbleiben und Zurückkehren und auch nach den Bedingungen des Hierbleibens – vor allem nach der Frage der Einbürgerung. Die zentrale Frage der Jugendlichen spitzt sich zu: „Pass oder Charakter“. Dieser Frage ist das letzte Drittel des Magazins gewidmet und die Antwort, die Message der Gruppe, wird am Ende von der Gruppe selbst gerappt: „Egal wo ihr herkommt, ihr seid korrekt!“

 

Im Sommer 2003 beantragte Eleonore Hefner, Geschäftsführerin des Ludwigshafener Vereins „Kultur Rhein-Neckar“ (KRN), Mittel für eine Geschichtsvideowerkstatt und erhielt eine Zusage vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des ENTIMON – Aktionsprogramms „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ . Auch die Beauftragte für Ausländerfragen des Landes Rheinland-Pfalz fand das Projekt förderungswürdig.


Die Schulleitung der Wittelsbach-Hauptschule im Ludwigshafener Stadtteil Süd, die Klassenlehrer der neunten Klassen und der an der Schule  angesiedelte Sozialarbeiter begrüßten und unterstützten das Projekt von Anfang an. So war es zum Beispiel möglich, dass die Schüler während der Projektzeit an  fünf Vormittagen anstelle des Unterrichts an Kompaktseminaren des Projektes teilnahmen.
Weitere wichtige Kooperationspartner wurden das Bildungszentrum BürgerMedien mit Know-how, Referenten und finanzieller Unterstützung, Ludwig Asal von der Medienwerkstatt CUT e.V., der das Projekt besonders in der heißen Schnittphase begleitete, und der Offene Kanal Ludwigshafen. Hier fanden alle Seminare und die meisten Gruppentreffen statt, und der Offene Kanal ergänzte auch die technische Projektausstattung.

 

Das Projekt „…wie wir nach Süd kamen!“ wurde konzipiert als Angebot für Schülerinnen und Schüler im Wittelsbachviertel in Ludwigshafen zum gemeinsamen Erforschen des Zuzugs der ersten Gastarbeiterfamilien im Stadtteil. Ziel war die gemeinsame Erkundung von – eigener – Zeitgeschichte. Durch forschendes Lernen in der Nachbarschaft, durch die Erkundung des Alltags sollte die Geschichte vor der eigenen Haustür entdeckt und das Wissen über Einwanderungszusammenhänge vermehrt werden. Die Anknüpfung an lebensweltliche Zusammenhänge und der Kontakt zwischen Generationen sollte historische Reflexion und demokratisches Bewusstsein stärken. Damit war das Thema sehr grob vorgegeben, Projektverlauf und die Realisation sollte von den Jugendlichen selbst bestimmt werden. Die Projektarbeit  zielte auf die Forderung und Förderung der Selbständigkeit der Schüler. 


Das Projekt begann im September 2003 und endete im Februar 2004 mit der Präsentation im Offenen Kanal Ludwigshafen bzw. in der Schule. Nach einer „Werberunde“ in den neunten Klassen der Schule hatten sich ursprünglich 20 Schüler angemeldet; 12 davon blieben bei Projektbeginn übrig; von ihnen ging nur noch eine Schülerin durch Schulwechsel verloren. Die Gruppe war sehr heterogen, 5 Jungs und 7 Mädchen zwischen 14 und 17 nahmen Teil. Vier von Ihnen waren türkischer, zwei deutscher Herkunft, je eine Jugendliche hatte Wurzeln im Kosovo, in Irakisch-Kurdistan, in Ägypten, in Serbien resp. in Italien).


Während des Projektes traf sich die Gruppe mindestens einmal, im letzten Drittel mehrmals in der Woche. Strukturiert waren die einzelnen Projektphasen durch die Kompaktseminare, die viermal ganztags an zwei Tagen stattfanden. Die ReferentInnen vermittelten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das nötige Handwerkszeug zum Umgang mit der Kamera, zur guten Gesprächsführung und Interviewtechnik, zur Erstellung eines interessanten Scripts und zum gelungenen Schnitt des Filmmaterials. Erwartet wurden von den Teamern dabei sowohl filmische, künstlerisch-handwerkliche wie pädagogische Qualifikationen. Ihre kommunikativen und animativen Fähigkeiten,  verbunden mit Lust und Neugierde an den Jugendlichen und am Film waren wichtige Erfolgsfaktoren für das Projekt. Mit Elena Gramatikov gab es eine Teamerin, die bei allen Seminaren für die Jugendlichen die zentrale Person war. Steffi Bräutigam, David Clarke und Martin Hügel brachten als Co-Teamer ihr spezifisches Fachwissen ein.
Diese Qualifizierung ist für die TeilnehmerInnen ist über das Projekt hinaus bedeutend. Am Ende des Kurses erhielten sie eine Art Zertifikat, das sie z. B. Bewerbungsunterlagen beifügen  können.


Das angestrebte „forschende Lernen in der Nachbarschaft … Geschichte vor der eigenen Haustür“ relativierte sich im Projektverlauf. Kein einziger Teilnehmer kam von sich aus auf die Idee, die eigenen Eltern als Interviewpartner für den Film zu befragen. Auch auf Nachfragen der Teamer gab es wenig Bereitschaft, hier zu forschen. Drei  Mädchen recherchierten ihre Familiengeschichte und zwei dieser Geschichten wurden im Film präsentiert – allerdings ohne Auftritt der Eltern. Eine Familiengeschichte und sehr schöne Statements der Teilnehmerinnen zum Thema „Heimat“ gingen leider in der Hektik des Videoschnitts auf DV-Kassetten oder Festplatten verloren.
Trotz  dieser inhaltlichen Einschränkung hat die Projektarbeit bei allen Beteiligten durch die Anknüpfung an lebensweltliche Zusammenhänge und durch den Kontakt zwischen Generationen die historische Reflexion gestärkt, auch die Reflexion der eigenen Familiengeschichte.

 

Die Produktion eines Videos ist mit einem sehr breiten Spektrum an Anforderungen verbunden: Es werden Kameraleute gesucht, aber auch Akteure, man braucht SprecherInnen aber auch Texter, man muss Kenntnisse über Ladegeräte, Schnittprogramme, aber auch über ästhetische Gestaltung haben. Man darf keine Angst haben, wenn man Straßeninterviews machen möchte und man muss psychologische Barrieren vor Computerprogrammen überwinden. Videoprojekte sind somit ideal für heterogene Gruppen und vor allem lassen sie es zu, dass ganz unterschiedliche Fähigkeiten anerkannt werden. Diese Qualität von Videoproduktion ist vielleicht die unterschätzteste und gleichzeitig die herausragende!


Die Authentizität, in der die jugendlichen Botschafter ihre Message – „Egal wo ihr herkommt, ihr seid korrekt!“ vermitteln, drückt unmittelbar auch die Lust am Medium aus und verbindet durchaus Emotion und Intellekt. Ist es der Geschichtswerkstatt aber gelungen, die Verbindung von individueller und gesellschaftlicher Geschichte deutlich zu machen? Die zentrale Abschlussfrage der Jugendlichen im Film war „Pass oder Charakter“. Man kann dies als Appell deuten, sich nicht von staatlichen Grenzziehungen einschränken zu lassen. Man kann es als Hinweis darauf verstehen, dass das Vorenthalten von Bürgerrechten für die „Mit-Bürger“ ohne deutschen Pass moralisch nicht legitim ist. Man kann es aber auch als Absage an gesellschaftliche Determiniertheit deuten.


Ein weiterer partizipativer Aspekt sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Ein defizitäres Selbstbild („Wir sind ja nur Hauptschüler…“?) und die Zukunftsperspektiven der beteiligten Jugendlichen werden von ihnen selbst als individuelles Versagen interpretiert. Die Auseinandersetzung via Videoproduktion macht zumindest in Ansätzen deutlich, dass das individuelle Schicksal in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet ist.
Das Kommunikationsmittel Video – und gar Fernsehen – taugt natürlich auch großartig zur Selbstinszenierung, zur Darstellung, zur Spiegelung, zur Imagearbeit, zur Präsentation; Schaut her, wir sind auch aktiv, wir machen – und können was!


Die Jugendlichen wagen sich mit dem Film an die Öffentlichkeit und sie wollen Öffentlichkeit. Dass die regionale Tageszeitung und der Rundfunk berichten, dass der Film im Offenen Kanal gesendet wird, ist wichtig. Diese Partizipation an und Selbstgestaltung von Öffentlichkeit ist politische Bildung. Die Gruppe hat sich mit dem Film den Schülern verschiedener Klassen vorgestellt und wird von anderen Schulen eingeladen (werden). Durch die (gemeinsame) Präsentation des Films vor verschiedenen anderen Gruppen erreichen die Jugendlichen verschiedenste Publikumsgruppen und erleben die eigenen Ideen und Gedanken in verschiedenen Kontexten. Sie werden mit ihrem Projekt auch andere anregen, ähnliches zu versuchen. Sie haben mit ihrer Arbeit ein Angebot zum Gespräch gemacht.


Was brauchen wir dringender in unserer Einwanderungsgesellschaft?

Author: Eleonore Hefner / Hans-Uwe Daumann
E-Mail: info@kulturrheinneckar.de

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