„Über den Sinn und Unsinn der Bürgermedien“

„Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“. Dies ist ein Schüsselsatz aus dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Der Autor zieht eine weitere Gedankenlinie aus dieser Erkenntnis. Oder sagen wir besser aus dieser Annahme? Jedenfalls schreibt Musil dieser Erzähler-Rolle und dem Muster der ewig gesponnenen Geschichten eine besondere Wirkung zu.

Nichts nämlich, so seine Beobachtung, beruhige mehr als die „Aufreihung all dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden.“ Nichts sei zuträglicher als die eindimensionale Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens, nichts mache eben dieses Leben behaglicher als das Wiedergeben der Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufs. Genau dies gehöre zu den Kunstgriffen der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen.“

 

Selige Zeiten, die der Autor da beschwört? Die Frage darf man durchaus rhetorisch verstehen. Natürlich nicht. Aber natürlich ganz andere Zeiten. Als der Roman, der eine Übergangsepoche unter dem Kürzel KuK zum Rahmen hat, erschien, Anfang der 40er Jahre, war die Welt noch nicht von den modernen Bildmedien fast vollständig durchdrungen. Film, Radio, ja, aber das hatte entweder immer noch viel Flittriges oder viel bildungsbürgerlich Konventionelles – war eher eine Verlängerung der schon in den seligen Kultur-Kanon aufgenommenen Formen.

Natürlich, die Moderne im technischen Sinn war schon längst überall zu beobachten. Doch medial hätten wahrscheinlich die meisten Menschen sich in der Musilschen Theorie wiedergefunden und das Erzählen als „bewährteste Verkürzung des Verstandes“ durchaus nicht als opiatische Technik verdammt.

 

Vielmehr hätten sie sicher mit Wohlgefühl bestätigt, dass das Erzählen uns einen Sinn-Faden schenkt, an dessen fortgesponnenem Lauf wir uns im Chaos geborgen fühlen können, so, als ob uns auch am Nordpol die Sonne den Bauch wärmt, wenn die Vorstellung dies in einen schönen Zusammenhang stellt.

Der Sinn des Lebens: Demnach wäre er nirgends besser zu erkennen – richtiger vielleicht noch: zu erfühlen – als in der ordentlichen Reihenfolge vieler kleiner und großer Satzanfänge nach dem Muster des „Und dann“.

Gerhard Prager, in der Kinderzeit des ZDF, also in den 60er Jahren, dessen Programmdirektor, pries denn damals noch das Fernsehen als den großen Geschichtenerzähler. Was Dieter Stolte – der Über-ZDF-ler – noch in den 90er Jahren immer wieder aufnahm. Auch Norbert Schneider, Direktor der Landesanstalt für Medien (immerhin ein ausgebildeter Theologe), wies dem Medium, bezogen nicht zuletzt auf Muster des Films, die Rolle des großen Mythenproduzenten zu. Ganz im Sinne großer kollektiver Erzählungen und überindividueller Figuren und Helden, in denen sich Erfahrungen verdichten und – in jeder bildlichen Hinsicht – zum Allgemeingut werden.

 

Wir alle hier im Saal wissen aber auch: Dies ist heute vielleicht nicht einmal mehr eine annähernde Wahrheit. Allen erfolgreichen Telenovelas zum Trotz, diesen neuerdings so beliebten Heftchenromanen im Bildschirmformat, auch entgegen allen Wünschen nach dem doppelten und dreifachen Wärmestrom, den schöne lineare Geschichten auslösen können: Es gibt ein wachsendes Unbehagen am herkömmlichen Fernseh-Raum als Lebensraum.

Dies hat, natürlich, mit existentiellen Zweifeln zu tun. Zweifeln, die ganz und gar nicht neu sind und die – unter dem Eindruck einer heraufziehenden großstädtischen Moderne – bereits Rilke in einer heute noch aufrüttelnden Form in seinen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ aus dem Paris um 1910 beschrieben hat. Das Leben: nichts mehr als eine nicht zu entschlüsselnde Abfolge von Fragmenten, von Gedanken- und Erinnerungsfetzen, von zersplitterten Eindrücken.

Ich hoffe, Sie bewerten diese literarisch-medialen Rückblicke nicht als unziemliches Vorbeireden am Thema. Tatsächlich aber legt die Frage, was an Bürgermedien denn Sinn und Unsinn sei – verschärft sogar: welchen Sinn wir ihnen geben oder geben können – natürlich den vergleichenden Blick nahe.

Mit der weiteren Frage im Hinterkopf: Passen sich unsere Medien, passen wir unsere Medien geradezu mimetisch an den jeweiligen Status der Gesellschaft an? Oder bilden sich Gesellschaftsstrukturen heute vorwiegend nach den Mustervorgaben der Medien – wenn Medien denn überhaupt etwas vorgeben? Wie steht es mit den gegenseitigen Durchdringungen und Reflexen? Und: Gibt es womöglich viel wirkungsmächtigere Erst-Faktoren, die gar nichts mit Sinn-Gebung und Sinn-Findung zu tun haben?

Zu den Befunden gehört: Für viele Bürger lässt diese Gesellschaft erlebte Zeit kaum noch zu, jedenfalls nicht in einem erkennbaren Ablauf. Viele Lebensvorgänge werden in immer stärkerem Maße zugleich fragmentiert und zentralisiert. Die Arbeitsteilung strebt unter den Stichworten Mobilität und Flexibilität immer neuen Extremwerten zu.

 

Und, ganz wichtig, immer neue Schübe in der technischen Entwicklung der elektronischen Informations- und Kommunikationsmittel zeigen unerbittlich eine vorherrschende Tendenz: die Kommunikation der Menschen zu rationalisieren. Und eben diese Kommunikation den technischen Möglichkeiten anzupassen, ja, sie geradezu sich anzuverwandeln.

Ein natürlich trotz aller äußeren Vorgaben immaterieller Vorgang, der mit einem äußeren Ziel einhergeht, besser noch: sich fast ausschließlich diesem Ziel verdankt: mit technischer und medialer Kommunikation in jeder Form Kasse zu machen.

Gerade erleben wir eine neue Phase bei diesem technischen Vorwärtsdrang, nach dessen Geschwindigkeit und Auswirkungen wir tatsächlich überhaupt nicht gefragt werden – wie seit eh und je. Diese neue Phase – der Übergang von der analogen in die digitale Produktions-, Speicher- und Verbreitungswelt – wird von vielen kundigen Beobachtern als radikale Umwälzung bewertet, als weitgehende Auflösung der bislang bestehenden Medienlandschaft. Der Intendant des ZDF, Markus Schächter, sieht darin einen Umbruch, der in den nächsten vier Jahren eine viel tiefer gehende Umgestaltung auslöse und bewirke als alle Änderungen in den vierzig Jahren vorher.

Das ließe sich übersetzen als: Abschied vom Heute. Ein Abschied, der sich in den letzten fünf Jahren schon andeutete, aber noch nicht in jegliche Breite und Tiefe ging. Jetzt aber, nachdem der Begriff Konvergenz ein gutes Jahrzehnt lang mehr durch Fachkonferenzen mäanderte, als dass er Wirklichkeitsformen annahm, jetzt scheint er sich in vehementer Beschleunigung und mit hohem Nachdruck in Wirklichkeit zu übersetzen. Konvergenz der Inhalte, Konvergenz der Verteilungswege, Konvergenz der Plattformen – eine hochgradige mediale Durchdringung wird von Tag zu Tag für immer mehr Menschen zur unverrückbaren Realität.

 

Dazu gehört unablöslich die zentrale Eigenschaft der Verfügbarkeit: Alles und jedes wird für jeden zu jeder Zeit an jedem Ort verfügbar, jedenfalls als Möglichkeit. Die Technik ist kein Hemmnis mehr, im Gegenteil, sie formt, forciert und beschleunigt diese Entwicklung. Mit dem als Ideal gedachten Zustand, dass ein Gerät für alles tauglich sein könnte. Vielleicht, dass noch ein Unterschied gesehen wird zwischen der heimischen Netzzentrale und dem mobilen Kombi-Gerät für unterwegs.

Doch im Prinzip ist auch hier die gegenseitige Vereinbarkeit das A und O. Was in der praktischen Konsequenz bedeutet: die bisherigen Exklusivitäten lösen sich auf, alles wird eins, vor allem im technisch-kommunikativen Transportwesen; doch auch die Inhalte werden durch die Konvergenz aufgefächert, modifiziert, zur leichtbeweglichen Überall-Ware. Kabel und Satellit, Internet, Fernsehen und Telefonie, mobil oder örtlich fix: Das ist künftig nur noch in Hybridformen zu denken – entsprechend werden die Nutzungsformen ineinander verfließen.

 

Dies alles berührt – wie sollte es anders sein? – natürlich auch zentrale Gedanken der so genannten Bürger-Medien. Ein Begriff übrigens, der mich eher irritiert: Sind das in erster Linie Medien für Bürger – was ja eigentlich immer noch ein zumindest hintergründiger Sinn und Auftrag vieler herkömmlicher Medien ist? Oder zielt der Begriff ohne Wenn und Aber auf den praktizierenden Bürger, meint er also vornehmlich, vielleicht gar ausschließlich Medien der Bürger? Ich vermute, auch hier steht Hybrides, Durchlässiges, Changierendes am Anfang.

Auf die heutige Zeit fokussiert ist allerdings eines klar: Das Gegen und das Neben, mit dem sich die Bürgermedien auf die herkömmlichen, auf die gleichsam offiziösen Medien bezogen, unabhängig vom öffentlich-rechtlichen oder privaten Status -, dies ist als Standortbestimmung einer Revision zu unterziehen.

 

Die bisherigen, nicht unbedingt generalüberholten Positionen und Aktivitäten verdankten sich ja auch wesentlich einer für die hiesige Medienentwicklung bedeutsamen Zäsur, die Mitte der 80er Jahre Wirklichkeit wurde: der Einführung des Privatfernsehens. Die Prognosen der sich selbst als kritisch einstufenden Experten – und das war in der Regel ein Diskurs-Publikum unter dem Generalvorzeichen links — waren damals klar und eindeutig: Das rein renditefixierte Fernsehen würden die vorhandene öffentlich-rechtliche Fernseh-Öffentlichkeit im Kern aufweichen und dessen Qualitäten einebnen.

Dass die neue Vielzahl nicht nur mit Einfalt und Niveauverlust zu bezahlen wäre, das wiederum war der Gegenwunsch jener aus dem oppositionellen Lager, die einsahen, gegen das parallele Privat-Modell letztlich nichts ausrichten zu können: Gegen grenzüberschreitende Satellitenstrahlen war kein nationales medienpolitisches Kraut gewachsen.

Sie alle kennen diese alten Geschichten, wissen um den Kampfbegriff der Gegenöffentlichkeit, der mit den damaligen Modellen der Offenen Kanäle und ihrem Prinzip Schlange beim Zugang zu Produktionsapparat und Sendezeiten auch verbunden war. Die aktiven Verfechter mussten ertragen, dass diese neuartigen Unternehmungen von den systemreinen Denkern als Feigenblatt gekennzeichnet oder als mediale Don-Quichotterien verspottet wurden. Aber eine Grundforderung leuchtete doch fortwährend auf der gedanklichen Hintergrund-Leinwand: Partizipation. Manche sagten schlicht: Teilhabe.

Dies war ein großes Wort, das die Kritiker schon Ende der aufmüpfigen 60er, dann in den systemkritischen 70er Jahren immer intensiver umtrieb. Weg vom zentralen Sender, hin zur medialen Selbstbestimmung. Und zwar nicht durch die individuelle Wahl, sondern durch das eigene Tun.

Dazu gab es selbst in den traditionellen, den Offizial-Medien Mittäter und Anreger. Das alles war nur zu denken auf einer politischen Grundfolie: Misstrauen, Zweifel, Widerstand. Und auf der Folie der großen Streitfragen, beispielsweise im Glaubenskrieg um Fluch oder Segen des Atomstroms.

Der WDR „vor Ort“, legendär beispielsweise in Whyl: Das war für Redakteure wie Ludwig Metzger nichts anderes als Bürgerfernsehen – wenn auch noch organisiert durch die Sender. Auf Medienkongressen wurde, überhöht zum Großen Prinzip, immer wieder die Radiotheorie von Bertolt Brecht als leuchtendes Ziel projiziert: Jeder Mensch ein Empfänger. Aber auch: Jeder Mensch ein Sender. Mit Joseph Beuys hätte es geheißen: Jeder Mensch ist ein Medienproduzent.

 

Ist das inzwischen alles Lichtjahre entfernt? Ist das, was inzwischen als ganze Bürgermedien-Landschaft entstanden ist, tatsächlich nur noch ein Relikt aus bürgerbewegten Zeiten, in seiner Entstehung begünstigt durch das schlechte Gewissen oder das taktische Verführungsgeschick jener Politiker, die vor mehr als zwanzig Jahren dem privaten Rundfunk die Tür öffneten?

Sind also viele Knoten des Gestrigen in jenes Netz eingeknüpft, das im aktuellen Jahrbuch der Landesmedienanstalten mit einem doch großen Prädikat bedacht wird: dass nämlich die 140 auf Sendung befindlichen Bürgermedienprojekte im internationalen Vergleich einzigartig seien? Und dies auf der Grundlage einer inzwischen herausgebildeten großen Vielfalt an Typen, Organisationsformen und Konzepten.

Eine Vielfalt, die sich, Sie alle wissen es ja noch viel besser als ich, tatsächlich als beeindruckender Fächer darstellt: mit den Offenen Radio- und Fernseh-Kanälen, mit dem NRW-Bürgerfunk, mit dem nichtkommerziellen lokalen Hörfunk, mit dem niedersächsischen Modell des Bürgerrundfunks, mit dem Hochschulrundfunk und Lernradios, schließlich mit den Ausbildungs- und Erprobungskanälen.

 

Ein Netz insgesamt, dessen Festigkeit noch verstärkt wird durch hochaktive Weiterbildungs- und Service-Einrichtungen, von der Weiterbildung und Qualifizierung bis zum Erfahrungsaustausch und zur Qualitätssicherung.

Das alles ist wahrlich keine Kleinigkeit. So ist tatsächlich auch von außen ohne Schönfärberei oder Übertreibung voller Respekt zu konstatieren: Hier ist in zwei Jahrzehnten äußerer Reichtum entstanden, der seinesgleichen sucht. Für mich übrigens auch ein Ertrag jener in die Hunderte gehenden Kongresse und Symposien, welche die Genese und die Ausgestaltung des Dualen Systems in Deutschland begleitet haben.

 

Der damalige Diskurs, oft mit größter Vehemenz ausgetragen, war also beileibe nicht umsonst, auch wenn die Beteiligten manchmal ziemlich deprimiert oder auch nur erschrocken ob der Schneckengeschwindigkeit im Argumentationsverkehr die Podien verließen. Doch für mich ist es immer noch ermutigendes Beispiel, dass eine solche Anstrengung lohnt – und der technische Medienfortschritt nicht einfach ohne eingreifenden Widerstand mit Siebenmeilenstiefeln über alle gesellschaftsbezogenen Bedenken und Anregungen hinweglaufen kann.

 

Doch trotz aller äußeren Erfolge, trotz der in der Regel noch soliden gesetzlichen Grundlagen und der institutionellen Vernetzungen und Hilfestellungen: In nicht wenigen der Aktivisten nagt ein mehr oder minder ausgeprägter Zweifel: Erreichen wir mit all unserem Engagement mehr als den, salopp gesagt, innerkatholischen Führungszirkel? Befinden wir uns in einem Spiegelraum, in dem wir letztlich immer nur uns selbst wiederfinden? Anders übersetzt: Haben die Bürgermedien überhaupt Anteil an dem, was mit ihrem Grundgedanken der aktiven Teilhabe doch auch eng verbunden ist, zumindest als Absicht: Aufmerksamkeit zu finden? Mithin: nicht nur zu senden, sondern auch empfangen, also gehört und gesehen zu werden?

Dass dieser Zweifel schmerzt – bei einem immer intensiveren Kampf allerorten um die inzwischen knappste Medien-Ressource, nämlich Aufmerksamkeit -, das ist verständlich. Zumal er sich nicht als reiner Phantom-Schmerz abtun lässt. Und vollends wird die damit verbundene Schwebesituation so deutlich wie unabweislich, wenn man Schlagzeilen der letzten Zeit Revue passieren lässt.

 

Ein paar Beispiele: „Jeder ist ein Journalist“ – Überschrift der „Tagesspiegel“-Bestandsaufnahme einer Diskussion in Berlin über Sinn und Nutzen der Blogoshäre, wie eine seit gut zwei Jahren sich verstärkende Erscheinung in der Internet-Welt bezeichnet wird. Die durch eines gekennzeichnet ist: Jeder kann an Informationsplattformen aktiv, als Autor, mitwirken.

Eine andere Schlagzeile, auf den ersten Blick gegensätzlich: „Das Medium ist die Masse“. Hier geht es um das so genannte „Podcasting“. Das besteht darin, als beliebiger Autor – sicher: das ist eben vornehmlich der Amateurstatus – Audiobeiträge ins Internet zu stellen, die dann heruntergeladen werden können. Die Themen: so groß und so klein wie das Leben, nach dem Leitfaden: Ich und die Welt.

Die bisherigen Normalos in der Medienszene, von ARD-Sendern bis zum Deutschlandfunk, sind auf diesen elektronischen Verbreitungszug unterm Kult-Logo schon aufgesprungen. Wobei ohnehin die Audiofiles der Sender im Netz das individualis

Author: Uwe Kammann
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