Orientierungsstufe und Wegweiser

Es gab eine Zeit, auf die Schüler – und Eltern – heute durchaus wehmütig zurückblicken: Die Jahre vor der Einführung von G8; als den Gymnasiasten noch luxuriöse drei Jahre bis zum Abitur blieben. Die Klasse 11 nannte sich damals „Orientierungsstufe“. Und die gab Oberstufenschülern Zeit, sich zu überlegen: „Was will ich eigentlich machen, wenn ich hier fertig bin?“ Unsere Clique an der Gießener Liebigschule verbrachte diese Orientierungsphase wahlweise in Kneipen, Cafés und auf Partys. Auf einem dieser orientierungsgeeigneten Treffen kam ein Freund auf die Idee: Lass uns doch auf dem eben eröffneten OK Gießen „irgendwie Fernsehen machen“.


Wir waren zu fünft: Die einen begeistert von der Technik, vom Filme drehen und schneiden. Andere, dazu gehörte ich, wollten eher inhaltlich arbeiten und sich auch vor der Kamera aus-probieren. Mit gerade mal 17 Jahren war das eine aufregende Sache. Im Offenen Kanal stießen dann auch noch Ältere zu uns, darunter schon Medienerfahrene. Bei vielen Tassen Kaffee und so mancher Pizza wurde eine Sendung mit dem Namen „hydrokult“ geboren: Ein monatliches Kultur- und Szenemagazin, eine Stunde lang, live mit Beiträgen aus den Bereichen Kultur, Sport und Verrücktes.


Wir machten alles selbst: Im Garten eines Freundes bauten und bemalten wir eine fünf Meter lange Kulisse. Wir richteten eine Sofaecke mit Tisch und Aquarium ein und produzierten Beiträ-ge. Unser Anspruch an die inhaltliche Qualität und die Schnitttechnik war hoch. In jeder Sendung, die von Florian Kempff und mir moderiert wurde, hatten wir zwei Studiogäste – von denen einer, nach einem Gespräch auf dem Sofa, am Ende live auftrat.


Wir machten, was uns gerade in den Sinn kam: Wir kochten Pichelsteiner Eintopf nach einem Rezept von Hannelore Kohl und machten daraus eine Koch-Kolumne. Ich erklärte im Bikini am Beckenrand der Ringallee, wie Unterwasser-Rugby funktioniert und scheiterte an der Vorstellung von sechs Gewinnern der Deutschen Snooker-Meisterschaften. Nach dem Abitur und dem Beginn meines Studiums der Geschichtswissenschaft und Anglistik in Marburg sagte ich dem OK dann nicht ohne Wehmut Lebewohl.

 

Für mich waren die Erfahrungen beim OK und auch die vielen positiven Rückmeldungen auf unser unentgeltliches Engagement sehr prägend. Auch deswegen habe ich neben dem Studium viele Medien-Praktika gemacht. Nach einem Jahr in England verschlug es mich zum Ende des Studiums nach Hamburg, wo ich anschließend Volontärin beim NDR wurde.


Seit 2006 bin ich beim NDR als Autorin und Reporterin tätig. Zunächst für Panorama in der ARD und Menschen und Schlagzeilen im NDR. Mittlerweile produziere ich Fernsehbeiträge für titel thesen temperamente (ttt), das Kulturjournal und Metropolis  auf arte. Seit 2011 arbeite ich auch an 30-/45-minütigen Formaten: Für die ARD Co-Produktion „Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin“ über die Opfer der rechtsradikalen NSU erhielten wir drei Autoren im vergangenen Jahr den Journalisten-Preis „Rechtsradikalismus im Spiegel der Medien“. In der historischen Dokumentation „Als die Tommies in den Norden kamen“ konnte ich endlich meine Leidenschaft für Geschichte mit Film verbinden.

Und weil ich schon im OK gerne vor der Kamera agierte, habe ich als Sprecherin mehrere Features vertont und moderiere seit 2008 das Ressort KulturAktuell auf tagesschau24, dem Nachrichtenkanal der ARD.


Der Offene Kanal hat viel dazu beigetragen, mir den durchaus nicht einfachen Weg in einen Medienberuf zu öffnen. Ich betrachte es rückblickend als großes Privileg, dass wir die Zeit und die Chance hatten, uns in dieser Form auszuprobieren. Für mich war es die Erkenntnis, dass mir mein Hobby so großen Spaß macht, dass ich es zum Beruf machen möchte.

 

www.mok-giessen.de

Author: Kathrin Thüringer

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